Sonntag, 10. August 2008

Constantinopel - orientalisches Postleben vor 100 Jahren

Am Schalter der Deutschen Post in Constantinopel "Mögen Deine Abende glücklich sein Effendi!" Der Beamte erwidert den Gruß und fragt den Osmanen nach seinem Begehr. "Ist hier die deutsche Post?" forscht jener. "Ja, mein Herr." -"Ich möchte gerne eine Flinte haben, mein Lamm!" fährt der Tür­ke fort. "Was willst Du haben, meine Seele?" der Beamte glaubt nicht richtig zu hören. "Ich will eine Flinte haben, mein Kleinod!" wiederholt harmlos der Türke. "Eine Flinte? Wir haben hier doch keine Flinten." - "Gewiß. Ihr habt Flinten, mein Edelstein!" lächelt überlegen der Osmane. "Hier ist die deutsche Post, nach der Du gefragt hast. Hier gibt es Briefe und Freimarken, aber keine Flinten. Die bekommst Du dort unten in der Straße der Steppdecken­verkäufer rechts in dem großen Waffenmagazin.", belehrt der Beamte. "Nein, nein, mein Diamant!" unterbricht Ihn der Türke, "ich weiß ja, Ihr habt auch Flinten." Der Beamte gibt jeden Widerstand auf und blickt den Osmanen nur fragend an. "Siehst Du," fährt jener fort, "ich habe einen Freund, Ibrahim Aga; ich lernte ihn schon vor zehn Jahren kennen, damals wohnte er noch in meiner Nachbarschaft. Jetzt aber ist er im Gefolge des Kriegsministers Osman Pascha, dem er die Pfeifen stopft und reinigt. Er ist ein guter Mann, der mir die Wahrheit sagt, warum sollte er mich auch belügen? Dieser Ibrahim hat mir, als ich ihn neulich besuchte, eine Flinte gezeigt, eine Flinte, wie sie meine Augen bisher noch nie sahen. Diese Flinte. so hat mir Ibrahim erzählt, ist ein Geschenk; sie ist in Deutschland gemacht worden und Osman Pascha hat sie hier von der Post erhalten. Hörst Du, mein Kleinod? - eine solche Flinte möchte ich auch haben." Der Beamte begriff nun das Mißverständnis und erklärte dem Türken umständlich, daß man Flinten nicht ohne weiteres auf der Post holen könne und daß sie Geld kosten. Der Türke wollte das Geld gerne zahlen, die Flinte müsse nur gerade so sein, wie jene, die er gesehen. Nach kurzem Besinnen fährt der Beamte fort: "Höre, mein Lamm, ich werde Dir einen Brief an den Waffenhändler in Deutschland schreiben und anfragen, was solch eine Flinte kostet. Sage mir nur, wie die Fabrik heißt und in welcher Stadt Sie sich befindet." Der Osmane sieht den Beamten zweifelnd an und lächelt.
Endlich, als er bemerkt, daß die Frage ernst gemeint ist, stößt er hervor: "Aber, Effendi, das soll ich Dir sagen? Ich kann das doch nicht wissen. Du bist doch aus Deutschland und nicht ich." Nach längerer Erklärung erfährt der Türke, daß Deutschland ein großes Land ist, mit vielen Städten und vielen Waffenfabriken, in dem so viele Menschen leben, wie in dem großen Reiche des Padischah. Erstaunt lauscht der Osmane diesen Worten und nickt verständnisvoll, als der Beamte hinzufügt: "Geh noch einmal zu Deinem Freund, dem Ibrahim Aga; er wird gewiß erfahren können, woher die Flinte stammt und was sie kostet. Wenn Du nun alles weißt, mein Edelstein, so komm wieder hierher und bring das Geld gleich mit. Ich schicke das Geld mit dem Brief zusammen nach Deutschland und vier Wochen später bekommst Du Deine Flinte." Da wird es dem Türken unheimlich und er wittert Betrug. "Aber, Herr!" ruft er gekränkt aus, "was denkst Du von mir? Ich werde Dir doch das Geld nicht eher geben, als Du mir die Flinte gibst? Nein, nein..." schneller, als man es von einem Osmanen gewohnt ist, macht er Kehrt und entfernt sich eilends.